Staatsministerin für Europa: „Klimapolitik ist Sicherheitspolitik“ (16. März 2022)

Frau Lührmann, angesichts des aktuellen Kriegs in der Ukraine – auf welchen Ebenen können Berlin und Paris zusammenarbeiten, um die Rolle Europas zu stärken?

Die EU hat mit bemerkenswerter Geschlossenheit auf den Angriff Präsident Putins auf die Ukraine reagiert, unter anderem mit Sanktionen von präzedenzloser Tragweite. Deutschland und Frankreich arbeiten mit aller Kraft daran, dass die Menschen in der Ukraine mit medizinischen Gütern und Lebensmitteln aus Europa unterstützt werden. Uns ist wichtig, dass die Menschen, die jetzt in großer Zahl aus der Ukraine zu uns kommen, einen schnellen, unbürokratischen und EU-weit einheitlichen Schutz bekommen. Deswegen haben wir uns zusammen mit Frankreich für die erstmalige Anwendung der Richtlinie über temporären Schutz eingesetzt. Das fand breite Unterstützung unter den EU-Mitgliedstaaten.

Und militärisch?

Zur Unterstützung der Ukraine gehört auch die Bereitstellung von militärischem Material. Es gilt, Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Dabei stimmen wir uns eng mit Paris ab, wie wir die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU insgesamt weiter stärken können – auch um den europäischen Pfeiler in der Nato zu stärken und auszubauen. Gleichzeitig müssen wir gezielt in Europas Resilienz und Handlungsfähigkeit investieren, etwa durch den Abbau von Abhängigkeiten im Energiebereich und durch den raschen Aufbau von erneuerbaren Energien.

Welche Rolle können Deutschland und Frankreich beim Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion spielen?

Die EU-Mitgliedstaaten arbeiten spätestens seit 2017 an einer europäischen Verteidigungsunion. Hierzu gehören die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco), die Koordinierte Verteidigungsplanung für Europa sowie der Europäische Verteidigungsfonds. Nicht zuletzt wegen der zunehmend unverhohlenen Drohungen Russlands gegenüber den EU-Mitgliedstaaten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer wollen wir diese Ansätze weiter vertiefen und sie an die seit dem 24. Februar veränderten geopolitischen Realitäten anpassen. Dazu gehört auch der sogenannte Strategische Kompass der EU – unter deutscher Ratspräsidentschaft initiiert –, welcher nun unter der laufenden französischen Ratspräsidentschaft beschlossen werden soll. Er spiegelt dieses Anliegen wider und wird die Kohärenz der genannten EU-Verteidigungsinitiativen sicherstellen.

Welche Rolle spielt die Achse Berlin-Paris dabei konkret?

Deutschland und Frankreich kommt auch hier eine besondere Rolle in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu: Der 2019 unterzeichnete Vertrag von Aachen sieht eine tiefere deutsch-französische Abstimmung auch in Verteidigungsfragen vor. Sie ist im Sinne Gesamteuropas unerlässlich und immer als Keimzelle für europäische Ansätze gedacht. Ein gutes, aktuelles Beispiel ist die deutsch-französische Lufttransportstaffel, die erst vor wenigen Tagen in Évreux von den beiden Verteidigungsministerinnen in Dienst gestellt wurde.

Deutschland ist sehr viel abhängiger vom russischen Gas als Frankreich. Was können wir diesbezüglich von den Franzosen lernen?

Was wir vor allem von Frankreich lernen sollten, ist eine Diversifizierung der Energiequellen. Deutschland deckt derzeit noch etwa ein Drittel seines Gesamtenergieverbrauchs aus Russland, Frankreich dagegen weniger als zehn Prozent. Das liegt nicht nur an der Atomkraft. Frankreich weist auch im Bereich Erdöl eine deutlich geringere Importabhängigkeit von Russland auf. Hier hat Frankreich deutlich weniger auf eine Karte gesetzt als wir. Für die Zukunft müssen unsere beiden Länder die aktuelle Krise zum Anlass nehmen, um die Energiewende maximal zu beschleunigen. Bei dem Ausbau der Erneuerbaren und dem Hochfahren eines globalen Markts für grünen Wasserstoff müssen wir den Turbo einlegen.

Inwiefern muss die aktuelle Krise zu einem wirtschaftspolitischen Umdenken in Europa führen?

Der Umbau zu einer nachhaltigeren und klimafreundlichen Wirtschaft ist dringender als je zuvor. Klimapolitik ist Sicherheitspolitik. Der Ausbau erneuerbarer Energien und die effizientere Verwendung von Energie ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu mehr energiepolitischer Unabhängigkeit. Wir müssen die strategische Souveränität der EU in allen Wirtschaftsbereichen vorantreiben. So lautete auch der Tenor des Gipfels der EU-Staats- und -Regierungschefs letzte Woche in Versailles. Um die enormen globalen und geoökonomischen Herausforderungen zu meistern und unsere Werte und Normen durchzusetzen, brauchen wir auch eine Stärkung des EU-Binnenmarkts sowie mehr und substanziellere internationale Partnerschaften und Abkommen.

Mit welchem Ziel?

Es geht darum, insgesamt bei Klima und Nachhaltigkeit, Handel und Investitionen sowie Standards und Technologien geostrategisch richtig aufgestellt zu sein. Klar ist auch, dass dafür erhebliche Investitionen nötig sind. Die Bundesregierung tritt in Europa für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen ein.

Wie soll das gelingen?

Mit dem 2020 vereinbarten Aufbauinstrument Next Generation EU stehen den Mitgliedstaaten über die kommenden Jahre mehr als 600 Milliarden Euro zur Finanzierung von Investitionen und Reformen zur Verfügung. Diese Mittel sollten alle nun bestmöglich einsetzen. Auch bei einer Überprüfung der europäischen Fiskalregeln – also des Stabilitäts- und Wachstumspakts – wird es künftig darauf ankommen, Wachstum und Schuldentragfähigkeit sicherzustellen und gleichzeitig Investitionen in Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu priorisieren. Die Europäische Kommission hat noch für das erste Halbjahr 2022 konkrete Vorschläge angekündigt. Ich erwarte hierzu eine intensive Diskussion mit unseren europäischen Partnern.

Welche Rolle können junge Wissenschaftler dabei spielen?

Wie aus unserem Gespräch deutlich wird, steht Europa vor immensen Zukunftsaufgaben. Politik braucht die unabhängige fachliche Expertise der Wissenschaft, um diese Herausforderungen nachhaltig, evidenzbasiert und erfolgreich anzugehen. Mit dem Henrik-Enderlein-Preis möchten wir gemeinsam mit unseren wissenschaftlichen Partnern Sciences Po Paris und der Hertie School of Governance in Berlin herausragende junge europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fördern, die nicht nur exzellente Forschung betreiben, sondern ihre Erkenntnisse auch in die europaweiten gesellschaftlichen Diskurse einbringen. Ich denke dabei etwa an eine nachhaltige Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Menschen dient, oder die aktuellen Diskussionen über die künftige Energieversorgung oder zur Verteidigung Europas.

Was erhoffen Sie sich davon?

Wir wollen die Verbindung zwischen sozialwissenschaftlicher Forschung und konkreten Fragen der Politikgestaltung weiter stärken. Gleichzeitig soll der Preis dazu dienen, wissenschaftliche Talente zu erkennen und für eine breite Öffentlichkeit sichtbar zu fördern. Und natürlich möchten wir damit den im Mai 2021 viel zu früh verstorbenen Professor Henrik Enderlein ehren. Er hat mit seiner Forschung und seinem gesellschaftlichen Engagement einen großen Beitrag zur deutsch-französischen Freundschaft und dem europäischen Zusammenhalt geleistet.

Frau Lührmann, vielen Dank für das Interview.

Handelsblatt.com

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