Am 9. Mai feiern wir den Europatag, Jahrestag der am 9. Mai 1950 gehaltenen Rede des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman, die als ein Grundstein der heutigen Europäischen Union (EU) gilt. Inwiefern ist die über 70 Jahre alte Rede noch heute aktuell? Wie begeistern Sie junge Menschen für Europa?
Michael Roth: „Das ist das Schöne: Viele junge Menschen muss man nicht mehr für Europa begeistern. Sie sind es schon. Mein Herz schlägt für Europa. Mit meiner Leidenschaft versuche ich andere anzustecken. Es gelingt mir immer wieder. Das sind die schönsten Momente. Eine grenzenlose Europäische Union (EU) ohne Schlagbäume mit der Möglichkeit, auch in den Nachbarländern zu leben, zu lernen und zu lieben, ist für viele junge Menschen heute selbstverständlich. Die Corona-Krise mit den vielen schmerzhaften Einschränkungen und auch faktischen Grenzschließungen hat gezeigt, wie kostbar und großartig diese vermeintlich selbstverständlichen Errungenschaften sind. Darin liegt auch 70 Jahre danach noch das Aktuelle der Schuman-Rede: Wirklich stark und frei sind wir nur in der Rücksicht aufeinander und der Solidarität untereinander. Das sollte uns angesichts der aktuellen Krisen und Zerwürfnisse in Europa zu denken geben.“
Clément Beaune: „1957 sagte Albert Camus in seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Nobelpreises in Stockholm: „Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern.“ Diese Sätze sollten uns daran erinnern, dass wir ständig wachsam sein müssen. Wir müssen uns immer ins Gedächtnis rufen, welch große Kämpfe die Generationen vor uns ausgefochten haben, wie zum Beispiel die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion mit der Gründung der EGKS vor 70 Jahren. Für diese Generation waren Frieden, Freizügigkeit und die Freiheit selbst alles andere als selbstverständlich. Diese Errungenschaften, unsere Werte müssen um jeden Preis bewahrt werden. Um es mit den Worten von Simone Veil zu sagen: „Das Europa, das wir über Jahrzehnte geduldig aufgebaut haben, kann schon morgen auseinander fallen. Was manche Menschen mit Hingabe geschaffen haben, können andere zerstören.“
Wir können uns über das, was geschafft und geschaffen wurde, bewusst sein und gleichzeitig den Blick in die Zukunft richten. Europa hat sich verändert. Das europäische Narrativ ist nicht mehr nur eines des Friedens, des Binnenmarktes oder der Freizügigkeit. Wir brauchen ein politisches Projekt, damit sich die EU als Schutzmacht in einer Welt, die derzeit von Mächten wie China oder den USA bestimmt wird, behaupten kann. Dieses politische Projekt ist die Voraussetzung für ein echtes Zugehörigkeitsgefühl der Bürger*innen Europas. Das gelingt mit konkreten Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – Arbeit, der Kampf gegen den Klimawandel, technologische Innovation. Die EU muss den Bürger*innen die Möglichkeit geben, sich „ihr Europa“ wieder zu eigen zu machen.“
Bis Ende Mai präsidiert Deutschland den Europarat. Welche Prioritäten setzen Sie hier und inwiefern werden hier Jugendthemen vorangebracht?
Michael Roth: „Leider ist der Europarat auch heute noch viel zu wenig bekannt und wird häufig mit der EU verwechselt. Dabei ist er bereits 1949 gegründet worden. Es gehören ihm 47 Staaten an, also 20 Staaten mehr als der EU, unter anderem auch Russland und die Türkei. Mit seinen verschiedenen Übereinkommen, Konventionen und Chartas trägt der Europarat maßgeblich dazu bei, dass Europa heute die höchsten Menschenrechtsstandards weltweit für mehr als 830 Millionen Menschen bietet. Der Europarat ist der Schutzschild von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Genau dafür setzen wir uns während unserer Präsidentschaft ein. Etwa, indem wir uns für die konsequente Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stark machen. Alle Staaten müssen diese Urteile umsetzen. Weiter kümmern wir uns während unseres Vorsitzes um Verbesserung beim Schutz von Minderheiten, bei der Bekämpfung von Hass und Hetze im Internet und helfen mit bei der Erarbeitung von Menschenrechtsstandards im Bereich technologischer Entwicklungen wie Künstlicher Intelligenz.
Junge Menschen mit einzubinden ist uns ein wichtiges Anliegen. Die Jugendarbeit ist von grundsätzlicher Bedeutung für den Europarat. Deshalb plant Deutschland auch in diesem Jahr eine Förderung des Europäischen Jugendwerks und der Jugendzentren des Europarats in Straßburg und Budapest. Wir unterstützen die neue Jugendkampagne, die 2022 starten soll. Diese Kampagne soll der Belebung der Demokratie, dem Aufbau von Gemeinschaften und der Stärkung der Beteiligung junger Menschen dienen.“
Im Januar 2022 beginnt die französische EU-Ratspräsidentschaft. Was werden Ihre Schwerpunkte für diesen sechsmonatigen Vorsitz sein? Welchen Stellenwert wird die Jugend haben?
Clément Beaune: „Nach der portugiesischen und slowenischen Präsidentschaft im Jahr 2021 wird Frankreich im ersten Halbjahr 2022 den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehaben. Es wird die 13. EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs sein. Für die Europäische Union ist dies ein sehr wichtiger Moment. Wir hoffen, dass wir bis dahin die Corona-Krise, die unser Kontinent seit mehr als einem Jahr durchläuft und die unsere Bürger*innen – und besonders die junge Generation – schwer belastet, überwunden haben. Heute gibt es einen großen Wunsch nach einem geeinteren und souveräneren Europa. Ein Europa, das sich als Raum gemeinsamer Kulturen behauptet. Ein Europa, dessen Identität auf gemeinsamen Prinzipien und Werten basiert. Ein Europa, das alle Möglichkeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und des ökologischen oder digitalen Wandels ausschöpft. Um diese Erwartungen zu erfüllen, wollen wir unsere Präsidentschaft auf drei Säulen aufbauen: „Neustart, Souveränität, Zugehörigkeit ".
Wir werden intensiv daran arbeiten, eine Reihe von wichtigen Texten und Initiativen erfolgreich zum Ende zu bringen. Dazu gehören die Regulierung von digitalen Diensten, die Bereitstellung neuer Mittel für den Europa-Haushalt, die CO2-Grenzsteuer und der Schutz unserer Grenzen. Wir müssen uns auch neuen Herausforderungen stellen und die Lehren aus der Krise ziehen. Wir wollen ein Europa der Gesundheit aufbauen und damit medizinische Forschung besser finanzieren. Die Jugend wird das Leitmotiv dieser Ratspräsidentschaft sein. Die jungen Europäer*innen haben unter den Folgen der Krise gelitten. Jetzt liegt es in unserer Verantwortung, ihnen Perspektiven zurückzugeben. 2021 steht die Europawoche für mich im Zeichen der Jugend mit mehreren konkreten Initiativen für Schüler*innen, Auszubildende, Studierende und Freiwillige des französischen Service civique. Darüber hinaus ermutige ich alle jungen Menschen in Deutschland, Frankreich und Europa, sich an der Konferenz über die Zukunft Europas zu beteiligen und sich Gehör zu verschaffen.“
Mit der Konferenz zur Zukunft Europas öffnet die EU den Diskurs mit seinen 450 Millionen Bürger*innen und fordert sie auf, sich „Gehör zu verschaffen“. Was erhoffen Sie sich von der Bürgerbeteiligung?
Michael Roth: „Demokratie lebt ja von der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nicht nur bei Wahlen, das steckt ja schon im Namen. Und in einer Demokratie sollte immer der Grundsatz „Machen statt Meckern“ ganz vorne stehen. Eigener Einsatz in Verein, Schule, Stadt, Landkreis ist einfach das Mittel der Wahl, wenn es darum geht zu gestalten. In der EU mit seinen 27 Mitgliedsstaaten ist das zugegebenermaßen schon schwieriger, gehört zu werden. Das liegt nicht nur daran, dass Europa so groß ist, sondern auch daran, dass wir verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Voraussetzungen in unseren Ländern haben. Um gute Politik zu machen, muss man erst einmal wissen, was die Menschen bewegt, Alte und Junge, Männer und Frauen, Großstädter und Landbevölkerung. Ganz ungeschützt, ganz direkt. Und bei der Frage, in welchem Europa wir in der Zukunft leben, kommt es vor allem auf die jungen Menschen an. Denn Euch gehört das Europa von heute und morgen!“
Clément Beaune: „Wie können wir Europa besser machen, wenn es dort keinen Raum für Diskussionen oder Emotionen gibt und wenn dieses Europa die Lebensrealität der Menschen nicht kennt und hinter den Erwartungen der Bürger*innen zurückbleibt? Die Europäische Union muss jetzt zuhören und nach den Krisen, die wir gemeinsam bewältigt haben, ein echtes kollektives Bewusstsein schaffen. Europäische Souveränität gelingt nicht nur mit sektoraler Strukturpolitik, sondern auch und vor allem mit einem Zugehörigkeitsgefühl.
Dieses Ziel hat bereits Staatspräsident Macron 2017 in seiner Europa-Rede in der Pariser Sorbonne formuliert und es wird nun bei der Konferenz zur Zukunft Europas umgesetzt. Wir haben es mit einem demokratischen Pionierprojekt zu tun, das gleichzeitig in den 27 EU-Ländern stattfindet. Die Ergebnisse werden uns helfen, die Weichen für die kommenden Jahre und Jahrzehnte zu stellen.
Das Projekt wird auf europäischer Ebene durchgeführt. Die Europäische Kommission hat vergangene Woche eine innovative Plattform gestartet, auf der alle Bürger*innen ihre Ideen äußern, mit Menschen aus anderen Ländern und in unterschiedlichen Sprachen diskutieren und Veranstaltungen in ganz Europa organisieren oder besuchen können (https://futureu.europa.eu/). Wir werden auch Räume für den Austausch zwischen den Bürger*innen und Vertreter*innen der Institutionen einrichten. Die ersten Ergebnisse dieses Projektes wollen wir im Frühjahr 2022 veröffentlichen und darauf aufbauend eine gemeinsame Roadmap erstellen. Wir werden diese Debatte auch auf nationaler Ebene führen und noch vor Jahresende darüber berichten. Nutzen Sie diese Tools, um Ihrer Stimme Gehör zu verschaffen!
Joyeuse fête de l’Europe ! Einen fröhlichen Europatag!“